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    Unruhestiftung als Hoffnungsschimmer

    PROZ, Dezember 2023, S. 34

    Urs Heinz Aerni 

    Philip Kovce bezeichnet Aphorismen als «Nadeln ohne Heuhaufen». In seinem neuen Buch fragt er nach dem Menschsein und der Beziehung des Einzelnen zur Gesellschaft.

     

    Ihre gesammelten Aphorismen liegen nun als Buch vor. Der Titel: «Wenn 
alles gesagt ist, beginnt das Gespräch». Wie weiss ich, wann das Gespräch begonnen werden kann?

    Philip Kovce: Das Gespräch, das wirklich offene, offenbarende Gespräch, kann erst beginnen, wenn ich mit meinem Latein am Ende bin.

    Wie darf ich das verstehen?

    Solange ich noch besserwisserisch die vermeintlichen Schlechterwisser belehre, kann von Gespräch eigentlich keine Rede sein. Vieles, was wir heute Gespräch nennen, erweist sich unter diesem Gesichtspunkt eher als Gesprächsverweigerung.

    Während andere Philosophen sich ausufernden Gedanken ergeben, die 
in dicken Schinken von Büchern münden, widmen Sie sich der Verknappung und Zuspitzung in Form von Aphorismen. Wo sehen Sie den Vorteil dieser literarischen Gattung?

    Kurz gesagt: In der Kürze liegt die Würze. Ich bezeichne Aphorismen als Nadeln ohne Heuhaufen oder aufgesammelte Werke.

    Sie forschen heute als Ökonom und Philosoph an der Universität Freiburg im Breisgau und am Basler Philosophicum. Dabei beschäftigen Sie sich 
als ehemaliger Waldorfschüler auch mit Rudolf Steiner. Welche Sichtweisen Steiners lassen Sie nicht in Ruhe?

    Bei Steiner beeindruckt mich mehr noch als dieser oder jener Gedanke die Spannweite seines Denkens. Sein Werk ist ein philosophisch-theosophisch-anthroposophisches Gesamtkunstwerk – fragmentarisch und monumental, esoterisch und öffentlich gleichermassen. Und dabei ziemlich phantasievoll – ein «Einfallstor der Geister» …


    Letzteres schreiben Sie auch in Ihrem aktuellen Aphorismen-Band. Nun, wie viele Geister toben in Ihrer Seele?

    Unzählige. Mit jeder Fantasie andere. Darunter sind sowohl dunkle als auch Lichtgestalten. Es gilt, diesem Licht-Schatten-Kabinett vorzustehen, wenn man mit Fantasie sinnvoll umgehen will. Das «Einfallstor der Geister» aus Furcht vor ungebetenen Gästen einfach zu verriegeln, ist geistiger Selbstmord. Ohne Geister ist es ziemlich geistlos.

    Schmunzelnd las ich: «Wo treffen sich die Blicke, die sich finden?» Wie und wo treffen Sie Ihre Gegenüber zum Austausch auf Augenhöhe?

    Ich würde sagen, einen Austausch auf Augenhöhe und eine Begegnung von Mensch zu Mensch ermöglicht das Gespräch – wann und wo immer es stattfindet. Schon Goethe wusste, dass das Gespräch «erquicklicher als Licht» ist.

    Die Lektüre Ihres Buches beruhigt angesichts einer Welt, die aus den Fugen zu geraten scheint. Wo sehen Sie Orientierungspunkte für ein Denken in Richtung Hoffnungsschimmer?

    Mich beruhigen Aphorismen ganz und gar nicht.

    Aha?

    Sie sind für mich geradezu der Inbegriff geistiger Beunruhigung, weil sie den normalen Gang der Sprach- und Denkdinge bewusst stören. Doch gerade in dieser Unruhestiftung würde ich einen kleinen Hoffnungsschimmer sehen, der uns vergegenwärtigt, dass wir etwas tun, dass wir etwas ändern können. Das ist beruhigend und beunruhigend zugleich.

     

    Zur Person

    Philip Kovce, geboren 1986, forscht an der Götz-Werner-Professur für Wirtschaftspolitik und Ordnungstheorie der Universität Freiburg im Breisgau sowie am Philosophicum Basel. Ausserdem lehrt er im Studium fundamentale der Universität Witten/Herdecke und moderiert im Basler Unternehmen Mitte die Gesprächsreihe UM Politics Talks.

     

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