
PROZ, Oktober 2025, S. 23
Lukas Nussbaumer
Der Gare du Nord startet mit «Sturz in die Sonne» nach einem Roman von Charles Ferdinand Ramuz in die neue Saison. Und mit einem Who’s-Who der zeitgenössischen Musikszene.
«Dann kamen die grossen Worte; die grosse Botschaft wurde von einem Kontinent zum anderen über den Ozean gesandt.» So beginnt Charles Ferdinand Ramuz’ Roman «Sturz in die Sonne» aus dem Jahr 1922, der vor zwei Jahren auf Deutsch erschienen ist. Die Botschaft: Die Erde stürzt in hohem Tempo in die Sonne. Alles Leben wird erlöschen. Das ist starker Tobak, aber – 103 Jahre später – leider auch aktueller Tobak.
Ramuz’ düstere Geschichte steht im Zentrum der Saisoneröffnung des Gare du Nord. Eine ganze Reihe bekannter Namen und Gesichter aus der Neuen Musik und zeitgenössischen Performanceszene haben sich zusammengetan, um den metaphorischen Sturz zu vertonen, und mehr: Das Kernteam besteht aus DJ und Medienkünstler Janiv Oron, Szenograf, Bühnenbildner und Lichtdesigner Thomas Giger sowie Schlagzeuger und Produzent Michael Anklin. Oron und Anklin stehen bei der Performance auch selbst auf der Bühne, zusammen mit den Soundkunstschaffenden Marie Delprat und Luz González. Zu viert bedienen sie acht Plattenspieler – und bilden ein «Turntableorchester».
Die Musik, die auf den Plattenspielern aufliegt, stammt von neun verschiedenen Komponistinnen und Komponisten: Neben Delprat und González bekamen auch Martina Berther, Noémi Büchi, Rea Dubach, Violeta Garcia, Flo Kaufmann, Ruhail Qaisar und Christian Zehner die Aufgabe, jeweils einzelne der insgesamt 28 Kapitel des Buchs zu vertonen. Ein Line-up, das fast schon Supergroup-Charakter hat. Schauspielerin Cathrin Störmer spricht dazu ausgewählte Passagen des Originaltexts von Ramuz via Einspielung – «ein bisschen wie ein Orakel», wie Oron sagt. Und eine Orientierungshilfe für das Publikum, um sich in der Chronologie des Buches zurechtzufinden.
Plattenspieler als Symbol
Der Plattenspieler ist bei der Performance mehr als nur ein Reproduktionsmittel: Einerseits weist seine Funktionsweise Analogien zur Thematik im Roman auf – eine Nadel, die sich unumgänglich in Richtung Zentrum und Ende bewegt wie die Erde in Richtung Sonne. Andererseits sind die acht Plattenspieler auch Symbol für das Ungenaue, das Menschliche. «Wir können uns auf der Bühne zwar Einsatzzeichen geben», so Oron: «Aber 100 Prozent synchron sein können wir nicht.» Damit zu spielen, sei ein wichtiger Reiz des Stücks.
Bei der Musik allein bleibt es in «Sturz in die Sonne» aber nicht: Giger inszeniert den Abend als audiovisuelle Installation. Dabei spielt auch der Gedanke des Rituals eine Rolle. «Letztlich handelt Ramuz’ Buch von der Conditio humana», sagt Oron: «Es geht um Menschen und ihre Beziehungen. Um die Liebe für die Erde, für die Schönheit.» Wie sich dies auf der Bühne äussern wird, bleibt bis zur Performance ein Mysterium. Klar ist: Das Stück ist im wahrsten Sinne des Wortes brandaktuell – auch wenn Ramuz sehr wahrscheinlich noch nichts von der Klimaerwärmung wusste.
«Sturz in die Sonne»: Do 23.–So 26.10., jeweils 20 h, Gare du Nord, Basel, www.garedunord.ch

