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    Würdigung eines poetischen Rebellen

    PROZ, Mai 2025, S. 35–37

    Iris Kretzschmar

    Der Mann im blauen Overall wird 100: Das Museum Tinguely feiert seinen Namensgeber mit einem grossen Geburtstagsfest.

    Unvergessen sind Jean Tinguelys Werke! Sie sprühen vor Erfindungskraft und Witz, hauchen Schrott- und Alltagsmaterial neues Leben ein. Am 22. Mai wäre der charismatische Künstler 100 Jahre alt geworden. Zum Jubiläum veranstaltet das Museum Tinguely in Basel ein fulminantes Fest im Solitude-Park. Zeitgleich soll auch eine Geisterbahn eingeweiht werden, die von der englischen Künstlerin Rebecca Moss und dem Schweizer Augustin Rebetez gestaltet wird. Sie nimmt die Besuchenden mit auf eine ein- bis zweiminütige Reise durch eine immersive Kunstlandschaft – dies als Erinnerung an die mit einer Geisterbahn ausgestattete Grossinstallation «Crocrodrome de Zig et Puce», die Tinguely 1977 zusammen mit anderen Künstlern für die Eröffnung des Centre Pompidou in Paris geschaffen hat.

    Kein Stillstand

    «Es bewegt sich alles, Stillstand gibt es nicht», sagte Tinguely einst. Mit dem Zitat verbinden sich nicht nur rotierende Maschinen, sondern eine ganze Lebensphilosophie, die lustvoll Kunst und Leben vereint. Doch wer war dieser Tausendsassa, dessen Schaffen Klein und Gross noch immer beglückt?

    1925 in Freiburg geboren wächst Jean Tinguely im Basler Gundeli-Quartier auf. Es folgt eine Lehre als Schaufensterdekorateur, an der Gewerbeschule lernt er Eva Aeppli kennen. Zusammen suchen die jungen Kunstschaffenden 1952 das Abenteuer in Paris, leben von der Hand in den Mund und schliessen Kontakte zur Kunstszene. Zum Frühwerk gehören unter anderem bewegliche, filigrane Drahtplastiken, kombiniert mit abstrakten Formen, die an Malewitsch, Kandinsky referieren, ebenso die geniale Erfindung der automatischen Zeichnungsmaschinen, die humorvoll Gesten des Action Painting eines Jackson Pollock paraphrasieren und den Geniekult befragen. Aus heutiger Sicht nehmen sie sogar KI vorweg.

    Auflösung als Höhepunkt

    Ein wichtiges Jahr war 1960. Niki de Saint Phalle zieht bei ihm ein und Tinguely wird Teil der Gruppe des «Nouveau Réalisme», zu der unter anderem auch der jüngst verstorbene Daniel Spoerri zählt.

    Im gleichen Jahr baut er im Garten des Museum of Modern Art die «Hommage an New York», seine revolutionärste Maschine. Vor Publikum beginnt sich die Höllenkonstruktion in Bewegung zu setzen, sich krachend, rauchend und zischend innerhalb von 30 Minuten selbst zu zerstören. Die Auflösung von Materie als Höhepunkt seiner Kunst ist ein radikaler Moment und Bruch mit der Tradition. Weitere autodestruktive Werke entstehen vor dem Hintergrund weltpolitischer Ereignisse. «Study for an End of the World 2», die explosive Weltuntergangsvision, wäre heute wieder sehr aktuell.

    Meistens arbeitet er im Team mit einer losen Gruppe von befreundeten Kunstschaffenden zusammen wie zum Beispiel Bernhard Luginbühl, Yves Klein und Niki de Saint Phalle. 1964 an der Landesausstellung in Lausanne lernt die Schweiz Tinguelys Schrottmonster, die «Heureka», kennen und lieben. Später wird sie ihren festen Platz am Zürichsee finden. Was macht den Zauber seiner Arbeiten aus? Die maschinellen Assemblagen aus gebrauchten Materialien produzieren nichts – sind einfach absurd. Sie betören mit einer eigenen verspielten Poesie und entlocken mit ihren irrationalen Gebärden ein Lächeln.

    Faszination Geschwindigkeit

    Mehrere Werke von Tinguely sind von Autos und Motorrädern inspiriert. Er besitzt mehrere teure Sportwagen, in seinem Schlafzimmer steht gar ein Lotos des Weltmeisters Jim Clark, gegenüber trauern die «Fünf Witwen» von Eva Aeppli. Die Formel 1 fasziniert ihn und viele der Piloten kennt er persönlich. In Erin­nerung an Jo Siffert und Joakim Bonnier, beide Anfang 70er-Jahre tödlich verunglückt, schafft er Memorials, einen Brunnen für Freiburg und einen Flügelaltar aus der Karosserie eines kaputten Rennwagens. Zum zehnjährigen Todestag von Siffert nimmt Tinguely mit seinem langsamen, skulpturalen Maschinengefährt, dem «Klamauk» (1979), an einem Bergrennen im Jura teil, ohne das Siegerpodest zu besteigen.

    Anfang 80er-Jahre hält die Vergänglichkeit Einzug in Tinguelys Spätwerk. Flusspferd- und Krokodilschädel verbinden sich mit Mechanik und zoomorphe Plastiken wie die «Schweizer Kuh» sind wohl weniger für den Alpaufzug geeignet. Der Spuk findet 1986 im «Mengele Totentanz und Hochaltar» einen geisterhaften Höhepunkt. In den letzten Jahren erobern die grossen Metaharmonien den Raum mit ihren theatralisch-akustischen Aufführungen und die gigantische «Méta-Maxi-Maxi-Utopia» (1987) erlaubt dem Publikum gar Teil des riesigen Räderwerks zu werden.

    Am 30. August 1991 stirbt der international bekannte Künstler im Alter von 66 Jahren. Beim langen Beerdigungszug in Freiburg mit Tausenden von Leuten und der Fasnachtsclique Kuttlebutzer scheppert auch der «Klamauk». Zum diesjährigen Jubiläum hat das Maschinengefährt wieder einen grossen Auftritt. Am 2. und 27. Juli darf es als Kulturbotschafter die Fanmärsche zum Eröffnungs- und Finalspiel der Uefa Women’s Euro von der Innenstadt ins Joggeli anführen. Vom 22. Mai bis zu Tinguelys Todestag Ende August ist dagegen die neue künstlerische Geisterbahn von Moss und Rebetez vor dem Museum Tinguely in Betrieb.

    www.tinguely.ch, www.tinguely100.com

     

     

    Unvergessener Tinguely: Stimmen von heute

    Aufgezeichnet von Iris Kretzschmar

     

    Klaus Littmann, Künstler, Kurator und Produzent

    «Jeannot war für mich ein sanfter Gigant, der alles mit seiner Umgebung teilt, der animiert, anregt, anreisst, anzündet. Er war ein Pyromane, ein Sprengmeister, ein Wassermusiker – nicht nur im übertragenen Sinn. Ein Poet, politischer Kopf und Provokateur. Tinguely war immer wach, total verrückt und entgleisend schön.»

     

    Dominik Müller, Galerist und Buchautor

    «Erste Berührungspunkte mit Tinguely hatte ich dank meiner Mutter. Meine Brüder nahmen mich mit zum Fasnachtsbrunnen, wo wir sahen, wie der Künstler selber in Gummistiefeln den Brunnen reinigte. Mein Kunstgeschichtsstudium mündete in der Publikation des Buches ‹Jean Tinguely. Motor der Kunst› (2016), das jetzt neu aufgelegt wird. Als Galerist habe ich das Privileg, direkt mit der Familie des Künstlers in den USA zusammenzuarbeiten und bei der Verbreitung seines Werkes mitzuhelfen.»

     

    Heinz Stahlhut, Leiter Hans Erni Museum, Luzern

    «Jean Tinguely ist einer der Künstler, dem der Erfolg nicht nur Gutes gebracht hat. Jahrelang wurde er wegen all der von ihm gestalteten Foulards, Guetzliboxen und Weinflaschenetiketten von der Kunstkritik und der Wissenschaft eher scheel angesehen. Dabei waren die niederschwellige Zugänglichkeit und daraus resultierende Breitenwirkung doch ein erklärtes Ziel seines Schaffens.»

     

    Thomas Rusterholtz, Art Trade + Galerie

    «Meine Bewunderung für Tinguelys Fähigkeit, gesellschaftliche Befindlichkeiten zu kommentieren, ist bis heute ungebrochen: Was er in seinem Werk erahnt, analysiert und beschrieben hat, entspricht höchsten künstlerischen Standards und wird hierzulande oft unterschätzt.»

     

    Simona Deflorin, Künstlerin

    «Für Klamauk und Humor in der Kunst war ich eigentlich nie besonders zugänglich. Doch wo das Drama Tinguelys Werke anführt und Makaberes die Stimmung kippen lässt, liebe ich ihn so sehr.»

     

    Til Langschied, Künstler und Aufsicht im Museum Tinguely

    «Tinguelys Kunst ist für mich so spannend, weil sie aus einer Art von Anti-Blackbox-Maschinen besteht. Wir erleben zunehmend, wie Technologien, von denen wir abhängig sind, sich in immer abstraktere und nicht mehr nachvollziehbare Blackboxen verkriechen. Tinguelys Maschinen spielen mit dem Chaos, aber einem noch begreifbaren Chaos. Das Denken darf haptisch bleiben.»

     

    Christian Heitz, Sujet-Obmann der Fasnachtsclique Vereinigte Kleinbasler 1884

    «100 Joor – Chapeau, Jeannot! Für das Fasnachtssujet der VKB waren wir alle sofort Feuer und Flamme:  Ein grösseres Requisit in Form einer Tinguely-Maschine sollte das Herzstück des Zuges bilden. Die Figuren waren Tinguelys in Arbeits-Overalls oder in feierlich schwarzen Anzügen, inklusive Foulard.»

     

    Beat Braun, «Luminator»-Fan und Alt Grossrat FDP

    «Jean Tinguely, visionärer Pionier der kinetischen Kunst, hat mit seinem unkonventionellen Schaffen in Basel ein Feuer entfacht. Es wäre schön, wenn der ‹Luminator› als strahlendes Erbe in die Schalterhalle des Bahnhof SBB zurückkehren würde – als Hommage an seinen revolutionären Geist und seine unvergänglichen Visionen.»

     

     

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