PROZ, März 2025, S. 30/31
Dagmar Brunner
Vor 100 Jahren starb Rudolf Steiner in Dornach. Veranstaltungen und eine neue Publikation würdigen den Lebensreformer und Begründer der Anthroposophie.
Er hinterliess eine umfangreiche Bibliothek, rund 30 eigene Bücher, über 6000 Vorträge und -zig Aufsätze, 638 Notizhefte, ein künstlerisches Werk und ein markantes Gebäude auf dem Dornacher Hügel, das zuerst aus Holz und ab 1924 völlig neu aus Beton gestaltet wurde. Die Einweihung dieses zweiten Goetheanum-Baus erlebte sein Initiator Rudolf Steiner 1928 nicht mehr, aber viele seiner Impulse wirken fort.
Wer war dieser Mensch, der so engagiert und fruchtbar schaffen konnte? Rudolf Steiner wurde 1861 in einem Dorf geboren, das heute zu Kroatien gehört und war österreichischer Staatsbürger. Der älteste Sohn von Eltern aus einfachen Verhältnissen hatte eine Schwester und einen gehörlosen Bruder, seine Mutter war Näherin, sein Vater Bahnbeamter, was etliche Ortswechsel nach sich zog. Katholisch getauft, aber nicht religiös erzogen, hatte er bereits im Kindesalter ein erstes übersinnliches Erlebnis. Als guter Schüler konnte er 1879 dank eines Stipendiums in Wien Mathematik sowie natur- und geisteswissenschaftliche Fächer studieren. Zudem erhielt er die Chance, Goethes Naturwissenschaftliche Schriften herauszugeben. Nach Abschluss seines Studiums nahm er eine Hauslehrerstelle bei einer grossbürgerlichen, liberal-jüdischen Familie an.
Vom Freigeist zum spirituellen Lehrer
1890 wurde er nach Weimar berufen und wirkte während sieben Jahren an der grossen Goethe-Ausgabe mit. Dort lernte er auch seine erste Ehefrau kennen und verkehrte in Freidenkerkreisen. Mit 30 erwarb er einen Doktortitel in Philosophie, verfasste zunehmend eigene Publikationen und arbeitete kurzzeitig am Nietzsche-Nachlass mit. 1897 zog er nach Berlin, tummelte sich durchaus sinnenfroh in der Bohème und war als Redakteur eines Literaturmagazins und Dozent an der sozialistischen Arbeiterbildungsschule tätig. Im Jahr 1900 traf er Marie von Sivers, die seine engste Mitarbeiterin und 1914 seine zweite Gattin wurde.
Um die Jahrhundertwende schlug Steiner nach einer Krise neue (Denk-)Wege ein. Er wurde zunächst in der Theosophischen Gesellschaft aktiv, die in östlich-hinduistischer Spiritualität gründete. Dieser setzte er seine auf abendländischen Traditionen (Rosenkreuzer- und Christentum) beruhende «Geisteswissenschaft» entgegen, was zur Trennung und 1913 zur Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft führte. Nun meist in Dornach lebend, hielt er europaweit zahlreiche Vorträge und gab eine Fülle von geistigen und praktischen Anregungen für alle möglichen Bereiche: Pädagogik, Medizin, Landwirtschaft, Kunst, Wirtschaft, Theologie usw. Das enorme Arbeitspensum, zunehmende Konflikte und Kritik, der Brand des ersten Goetheanums Ende 1922 sowie die politische Lage setzten ihm allerdings zu. Er vertiefte und reorganisierte noch manches, erlag jedoch am 30. März 1925 mit 64 Jahren einer Baucherkrankung und wurde später in Goetheanum-Nähe beigesetzt.
Vielseitig-reformerisches Lebenswerk
Rudolf Steiners spirituelle Forschung, die er als Wissenschaft und Gemeingut deklarierte, war schon zu seinen Lebzeiten umstritten und irritiert auch heute immer wieder. Er bestand indes auf Selbsterkenntnis und kritischem Denken, lehnte Glauben und blinde Gefolgschaft ab, ermutigte zum individuellen Weg. Etliche anthroposophisch Bewegte sind heute bemüht, Dogmatik zu vermeiden, Steiner im Kontext seiner Zeit zu verstehen und seine Impulse weiterzuentwickeln. 100 Jahre nach seinem Tod wird vielerorts mit Veranstaltungen, Ausstellungen und Publikationen seiner gedacht. Eine neue, handliche Biografie vermittelt konzis, lebendig, ohne Scheuklappen und mit zahlreichen Bildern Einblicke in sein ebenso eigenwilliges wie vielseitiges Schaffen, an dem sich derzeit über 10 000 Einrichtungen in 103 Ländern orientieren.
Neue Archiv-Leitung
Im April 2025 übernehmen Philip Kovce (geboren 1986, Ökonom und Philosoph) und Angelika Schmitt (geboren 1976, Slawistin und Waldorfpädagogin) die Leitung des Rudolf Steiner Archivs in Dornach, das in den letzten zwölf Jahren von David Marc Hoffmann geführt wurde. Dort steht in rund 450 Bänden(!) die Gesamtausgabe von Steiners Werk kurz vor dem Abschluss. Das Archiv gehört einer gemeinnützigen Stiftung und wird künftig neben editorischen Aufgaben stärker für Forschung und Ausstellungen genutzt. Eine Fülle kostbarer Zeitzeugnisse und Dokumente ist auf Anmeldung einsehbar; der Lesesaal ist öffentlich zugänglich.
Veranstaltungen im 100. Todesjahr: www.steiner100.ch, www.goetheanum.ch, www.rudolf-steiner.com,
www.philosophicum.ch, www.gemeinschaftsbank.ch, www.steinerverlag.com